Instabiler Frieden - Bergkarabach nach dem Waffenstillstandsabkommen

Analyse

Das neu ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan hat grundlegende geopolitische und innenpolitische Konsequenzen für die Länder des Südkaukasus. Stefan Meister, Leiter der Heinrich Böll Stiftung Südkaukasus, erläutert die Folgen des Abkommens in 10 Punkten.

Zerstörte Schule Nr. 10 in Stepanakert/Bergkarabach

Das von Russland ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan vom 10. November 2020 verändert grundlegend die Situation im Konflikt um Bergkarabach. Armenien hat alle sieben, Anfang der 1990er Jahre eroberten, umliegenden Gebiete um Bergkarabach innerhalb kürzester Zeit an Aserbaidschan zurückzugeben.

Sowohl die von Aserbaidschan eroberten Teile im Süden der umstrittenen Region bleiben unter aserbaidschanischer Kontrolle, als auch die strategisch und historisch wichtige Stadt Susha/Shushi. 1940 russische Friedenstruppen sichern Bergkarabach und einen 5 Kilometer breiten Transitkorridor zwischen der umstrittenen Region und Armenien. An der Grenze zum Iran wird es einen Korridor durch Armenien geben, der Aserbaidschan mit seiner Enklave Nachitschevan verbindet. Diese Transitroute wird von russischen FSB Grenztruppen kontrolliert.

Zwar ist der heiße Krieg mit geschätzt bis zu 5000 Opfern insgesamt gestoppt worden, jedoch tritt der Konflikt in eine neue Phase ein, da grundlegende Fragen wie der Status von Bergkarabach nicht geklärt sind und das Abkommen neue Friktionen schafft. Insbesondere für Armenien hat diese demütigende Niederlage gravierende innenpolitische Konsequenzen und wird die Souveränität des Landes in Frage gestellt.

Wir beobachten eine Verschiebung des Machtgleichgewichtes in der Region zugunsten Russlands und der Türkei gegenüber der Rolle der EU und den USA. Die Türkei ist zwar keine Unterzeichnerin des Abkommens, spielt aber im Hintergrund eine wesentliche Rolle. Auch Israel hat mit seinen Waffenlieferungen nicht unwesentlich zum Sieg Aserbaidschans beigetragen und verfolgt insbesondere mit Blick auf den Einfluss Irans eigene Interessen.

Diejenigen, die 25 Jahre lang an einer friedlichen Konfliktlösung gearbeitet haben, werden weiter marginalisiert. Vertrauensbildung zwischen den beiden verfeindeten Völkern spielt keinerlei Rolle in dem Abkommen. Im Folgenden sollen 10 Konsequenzen aus diesem Krieg und dem Waffenstillstandabkommen analysiert werden, die weitreichende Folgen für den Südkaukasus und die EU haben.

1. Warum erfolgt dieser Krieg jetzt?

Armenien und Aserbaidschan haben beide einen Anteil an der aktuellen Eskalation. Der Konflikt um Bergkarabach war nie eingefroren, sondern hatte immer das Potential zur Eskalation. Beide Seiten haben sich zu den am meisten bewaffneten Staaten weltweit hochgerüstet und insbesondere Aserbaidschan hatte dafür mit Blick auf seine Einnahmen aus Öl- und Gasexporten ein enormes Budget.[1]

Während Jerewan gut mit dem Status quo leben konnte, hatte die aserbaidschanische Führung zunehmend den Eindruck, dass Armenien, weitgehend ignoriert von der internationalen Gemeinschaft, durch den Bau weiterer Infrastruktur und einer Ansiedlungspolitik in den besetzen Gebieten, Fakten schafft. Kam mit der Wahl von Nikol Paschinjan nach der Samtenen Revolution 2018 kurz die Hoffnung auf, dass sich mit einem Premier, der im Gegensatz zu seinen Vorgängern keine Wurzeln in Bergkarabach hat, ein Fenster der Möglichkeiten für eine Konfliktlösung öffnet, so trat hier schnell Ernüchterung ein.

Nikol Paschinjan schien zwar mit einem anfänglich moderaten Ton zu erkennen, dass er für eine Demokratisierung sein Land aus der Isolation führen muss. Jedoch musste er schnell feststellen, dass die politischen Kosten für einen Kompromiss mit Aserbaidschan zu hoch waren und er damit auch Angriffspunkte für seine politischen Gegner bot.

So kehrte sich seine anfänglich versöhnliche Rhetorik sehr schnell in die eines Hardliners um, der demonstrieren musste, dass er zu Bergkarabach steht und sogar mit dem Gedanken einer Integration der umstrittenen Region in Armenien spielte. Spätestens nach dem Disput des aserbaidschanischen Präsidenten Aliew und Premier Paschinjan auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2020 wurde deutlich, dass die Entfremdung ein Ausmaß angenommen hatte, dass eine Konfliktlösung in noch weitere Ferne rückte.

Gleichzeitig bereitete Ilham Aliew rhetorisch sein Land auf diesen Krieg vor. Nach einer kurzen militärischen Eskalation im Juli 2020, der mit dem Verlust eines hochrangigen Offiziers endete, musste er zudem feststellen, dass eine große nationalistische Dynamik im Land vorhanden war, welche schnell in Demonstrationen umschlagen und seine Legitimität in Frage stellen könnte.

2. Was ist die Rolle der Türkei in diesem Krieg?

Die Unterstützung Aserbaidschans durch die Türkei hat die Spielregeln in diesem Konflikt verschoben und war das entscheidende Element für den militärischen Sieg Bakus. Aserbaidschan hatte über Jahre für diesen Krieg mit modernsten Drohnen und Präzessionswaffen aufgerüstet.[2]

Dabei hat die Türkei nicht nur geholfen die Einsatzfähigkeit der aserbaidschanischen Armee durch gemeinsame Übungen zu verbessern, sondern auch durch die Lieferung von Drohnen an Aserbaidschan und deren technische Bedienung Baku einen militärischen Vorteil ermöglicht. Das aus mehreren Quellen bestätige Einschleusen von mindestens 2000 syrischen Kämpfern mit Unterstützung der Türkei, hat die Schlagkraft der aserbaidschanischen Armee nochmal erhöht.

Ebenso hat die bedingungslose türkische Unterstützung Aserbaidschans durch Präsident Erdogan auf der internationalen Bühne Baku das Gefühl gegeben, einen echten Alliierten zu haben. Für den türkischen Präsidenten mag es innenpolitisch von Vorteil sein, dass er durch seine Unterstützung Aserbaidschans bei den Nationalisten punkten konnte. Viel wichtiger ist es für ihn aber, Russland in seiner postsowjetischen Einflusszone herauszufordern und damit die eigene Verhandlungsposition gegenüber Moskau auch in anderen Konflikten wie in Syrien und Libyen zu verbessern.

Ankara und Moskau stehen in einer ganzen Reihe von Konflikten auf der gegnerischen Seite (Syrien, Libyen, Umgang mit den Kurden) und der türkischen Führung kann es nicht gefallen, dass Moskau im Schwarzen Meer versucht, das militärische Gleichgewicht zu seinen Gunsten zu verschieben. Mit ihrem Eingreifen im Karabach-Konflikt signalisierte die Türkei, dass sie den Anspruch hat, im Südkaukasus wieder eine einflussreiche Akteurin zu werden.

So wird sie auch von Staaten wie Georgien und der Ukraine als möglicher Alliierter für das Ausbalancieren Russlands in der Schwarzmeerregion zunehmend wahrgenommen. Gleichzeitig ist durch diesen Sieg die Achse Baku-Ankara gestärkt worden, die der Türkei erlaubt, ihre wirtschaftlichen und energiepolitischen Interessen mit Blick auf die Ressourcen im Kaspischen Meer weiterzuverfolgen.

3. Ist Russland Gewinner des Konfliktes mit dem Waffenstillstandsabkommen?

Russland ist Gewinner und Verlierer dieses Krieges, da das Abkommen sowohl zeigt, dass Moskau der entscheidende sicherheitspolitische Akteur in der Region bleibt, aber ebenso deutlich wird, dass mit der Türkei ein weiterer Spieler in die Region kommt.

Erschien es anfänglich so, dass Russland von dem aserbaidschanischen Angriff und schnellen Geländegewinnen überrascht worden ist, so hat sich die russische Führung mit der Stationierung von fast 2000 „Friedenstruppen“ eine neue Rolle im Konflikt um Bergkarabach gegeben. Zudem hat das russische Vorgehen die Minsk-Gruppe der OSZE endgültig marginalisiert und damit den Einfluss von USA und Frankreich bzw. der EU in der Region weiter reduziert.

Nicht nur ist Moskau Garant des Waffenstillstand­abkommens und wird noch wichtiger als Schutzmacht Armeniens, sondern auch Aserbaidschan muss sich mit der russischen Präsenz in Bergkarabach arrangieren. Moskau ist es gelungen, die Türkei aus dem Abkommen herauszuhalten, auch wenn es einen Überwachungsmechanismus unter türkischer Beteiligung gibt.

Das Zugeständnis eines von Russland überwachten Korridors durch Armenien gibt der Türkei zwar eine direkte Verbindung nach Aserbaidschan und bis zum Kaspischen Meer, aber gleichzeitig hängt das Funktionieren dieser Transitroute von Russland ab. Das zynische Abwarten der russischen Führung zeigt, dass auch Moskau nur einen begrenzten Einfluss auf die Konfliktparteien hat und kein Problem damit, wenn sein Verbündeter Armenien große Teile der Anfang der 1990er Jahre eroberten Gebiete an Aserbaidschan abgeben muss.

4. Ist Russland ein Verbündeter Armeniens?

Armenien musste lernen, dass es nicht nur von der westlichen Gemeinschaft im Stich gelassen wird, sondern auch nicht auf Russland als Schutzmacht zählen kann. Das Abwarten Moskaus bis kurz vor eine Niederlage der armenischen Seite und die betonte Neutralität Russland hat zu Frustration in Armenien geführt. Auch wenn die Bündnisoption der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (ODKB) nur für das Staatsgebiet Armeniens gilt, so wurde deutlich, dass auch diese von Russland geführte postsowjetische Institution eher eine Potemkinsche Organisation von Moskaus Gnaden ist, als ein funktionsfähiges kollektives Verteidigungsbündnis.

Es wäre unvorstellbar gewesen, dass Belarus oder Kasachstan auf Seiten Armeniens in diesen Krieg eingegriffen hätten. Somit entscheidet Moskau, wann es unter dem Deckmantel seiner Sicherheitsorganisation eingreift und wann nicht. Armenien ist durch die russische Militärpräsenz in Bergkarabach, die Absicherung der Transitroute zwischen Armenien und der umstrittenen Region sowie des Korridors nach Nachitschwan noch abhängiger von Moskaus Wohlwollen.

Damit wird Russland noch mehr Einfluss auf die armenische Innenpolitik gewinnen. Es ist vorstellbar, dass der Kreml mit dem Zögern auch die Position des durch Straßenproteste und eine demokratische Wahl an die Macht gekommen Premiers Paschinjan schwächen wollte. Ein Albtraum für jedes autoritäre Regime in Moskau auch mit Blick auf die eigene Innenpolitik oder andere postsowjetische Nachbarstaaten (siehe Belarus).

5. Was bedeutet das Waffenstillstandsabkommen für Armenien?

Für Armenien kommt dieser Waffenstillstandsabkommen einer Kapitulation gleich, die nicht nur die Souveränität des Landes untergräbt, sondern eine dauerhafte Destabilisierung des Landes befördert. Die Akteure der Samtenen Revolution allen voran Premier Nikol Paschinjan haben sich mit der Unterschrift unter das Abkommen in den Augen vieler Armenier diskreditiert und werden sich kaum in ihrem Amt halten können.

Die Welle an Flüchtlingen aus Bergkarabach und den umliegenden Provinzen sowie die Rückkehr der Militärs wird für Armenien auch eine Bürde sein, die nicht nur finanziell das Land weiter schwächt, sondern auch ein destabilisierender Faktor durch all die frustrierten und heimatlosen Menschen mit sich bringt. Für ein kleines Land wie Armenien sind die jetzt bereits geflohenen 100.000 Menschen aus Bergkarabach kaum zu versorgen.

Täglich werden es mehr Menschen. Das Chaos, das der kurzfristige und ungeplante Rückzug erzeugt, sowie die Unfähigkeit des Staates für die fliehenden Menschen zu sorgen, wird den armenischen Staat und seine Institutionen weiter delegitimieren. Dabei sollte Armeniens starke Betroffenheit von der Covid-19 Pandemie nicht vergessen werden, es wird angenommen, dass fast die Hälfte der Bevölkerung von Bergkarabach von dem Virus betroffen sind.

Gleichzeitig fehlt es im Moment an handlungsfähigen Politiker*innen, die dem Land eine Perspektive geben können: die Akteure der Samtenen Revolution sind gescheitert; ihre Vorgänger tragen durch Korruption und das Herunterwirtschaften der Armee eine Mitschuld an der entstandenen Situation.

6. Was wird mit dem Status von Bergkarabach?

Der ungeklärte Status von Bergkarabach wird zu einem Streitthema werden, dass die armenische Innenpolitik weiter beschäftigen und dauerhaft für Instabilität im Südkaukasus sorgen wird. Es ist eine offene Wunde, die zwischen Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen weiter existiert.

Jeder armenische Politiker in Verantwortung wird nach dieser Niederlage keinerlei Spielraum für Kompromisse haben. Es scheint für Armenier nach diesem Krieg eher unwahrscheinlich, dass sie in die von russischen Truppen kontrollierte Region zurückkehren werden. Weder können sie sich auf russischen Schutz wirklich verlassen, noch ist es schwer vorstellbar, wie jetzt Armenier und Aserbaidschan nebeneinander leben sollen.

Die Frage bleibt, ob der Druck auf die aserbaidschanische Politik nicht wachsen wird, doch noch die restlichen Gebiete einzunehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass für Aserbaidschan dieses Abkommen nur eine strategische Pause ist und es mit seiner militärischen Überlegenheit auch noch die 25 km von Susha/Shushi entfernte Hauptstadt Stepanankert einnimmt.

Auf jeden Fall wird Baku seine Machtposition ausspielen, um Bergkarabach und die umliegenden Provinzen zu integrieren. Das geht einher mit Flucht und Vertreibung verbunden mit mehr Hass gegenüber dem Nachbarn.

7. Wie positioniert sich der Iran?

Der Korridor in die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan durch Armenien birgt weiteres Konfliktpotential, sowohl mit Blick auf die Nutzung durch die Türkei und Aserbaidschan als auch für das zukünftige Verhältnis zum Iran. Der Iran ist ein wichtiger Verbündeter Armeniens für Handel sowie vor allem für Stromlieferungen aus Armenien für iranisches Gas.

Für Armenien war das bisher die einzige Möglichkeit, um die einseitige wirtschaftliche und energiepolitische Abhängigkeit von Russland zumindest teilweise zu mindern. Die Grenze Armeniens zum Iran wird jetzt defakto von russischen Grenztruppen mitüberwacht und kann jederzeit unterbrochen werden. Für die iranische Führung ist es wichtig, dass Russland in der Region präsent ist und damit der Rivale Türkei keine Dominanz im Nachbarstaat aufbauen kann.

In einem Friedensplan hatte Iran zwar die Rückgabe der sieben Gebiete um Bergkarabach an Aserbaidschan gefordert. Jedoch begrüßt es Teheran, dass Bergkarabach nicht durch einen Sieg mit türkischer Unterstützung erobert wurde, sondern russische Truppen mindestens für 5 Jahre dieses Gebiet kontrollieren werden.

So hofft die iranische Führung, das Friedensabkommen reduziert den innenpolitischen Druck durch die eigene aserbaidschanische Minderheit (bis zu 25 Prozent der Bevölkerung des Iran) auf Teheran, die für eine Unterstützung Aserbaidschans in diesem Krieg demonstriert hatte.

8. Was bedeutet das Waffenstillstandsabkommen für die EU und USA?

Für die EU und die USA muss dieses Waffenstillstandsabkommen als eine Niederlage für eine Politik der Stabilisierung, Vertrauensbildung und Konfliktlösung gewertet werden. Das OSZE Minsk Format hat endgültig seine Funktion und Legitimation verloren. Sicher war es aus aserbaidschanischer Sicht von Anfang problematisch, dass die drei Länder mit der größten armenischen Minderheit weltweit, mit Frankreich, Russland und den USA zu Co-Vorsitzenden des Formates wurden.

Jedoch hatte sich in den letzten Jahren vor allem auf französischer und US-Seite eine gewisse Ermüdung im Rahmen dieses Formates gezeigt, was zu einer Dominanz Russlands bei allen Verhandlungen geführt hat. Moskau aber hat diesen Konflikt u.a. mit Waffenlieferungen an beide Konfliktparteien genutzt, um beide Länder in einem Abhängigkeitsverhältnis zu halten.

Indem das Waffenstillstandsabkommen außerhalb des Minsk-Formates von Russland in Abstimmung mit der Türkei ausgehandelt wurde, haben wir eine neue Realität: Der Westen spielt keine Rolle mehr in diesem Konflikt, mit Ankara kann sich die russische Führung eher einigen, als mit Washington. Die eigentliche Tragödie spielt sich jedoch mit Blick auf die demokratischen Kräfte in Armenien ab: Diese sind zutiefst enttäuscht über das Desinteresse aus Brüssel und den EU-Mitgliedsstaaten.

Armenien hat sich nach der Samtenen Revolution als junge Demokratie gefühlt, die Anschluss an andere Demokratien vor allem in Europa gesucht hat. Diese haben aus armenischer Sicht keinerlei Empathie oder Interesse gezeigt, dem Land zu helfen. Nur das autoritäre Russland ist dazu bereit, zumindest einen fragilen Frieden mit „Friedenstruppen“ zu garantieren.

Damit sind nicht nur die Demokratie und die EU diskreditiert, sondern haben auch die Akteure in Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft an Glaubwürdigkeit verloren, die sich für ein neues, europäisches und demokratisches Armenien eingesetzt haben. Letztlich wird auch die Nachbarschaftspolitik der EU beschädigt, da Armenien als Modellfall galt, das mit einem umfassenden und erweiterten Partnerschaftsabkommen (CEPA) mit der EU gleichzeitig Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion ist.

9. Was bedeutet dieser Krieg und diese Abkommen für eine Versöhnung?

Die großen Verlierer dieser Entwicklungen sind die armenische Zivilgesellschaft und Friedensaktivist*innen in beiden Ländern. Der Druck auf die armenische Zivilgesellschaft vor allem denen, die mit westlichen Institutionen kooperiert und an Versöhnungsformaten mit Aserbaidschanern teilgenommen haben, ist massiv gewachsen.

Nicht nur, dass sie an den Rand der gesellschaftlichen Debatte gedrängt werden, sondern auch mit Hassreden, verbalen und tätlichen Attacken massiv in den letzten Wochen unter Druck gesetzt wurden. Das gleiche gilt auch für Aserbaidschan, wo im nationalen Siegestaumel alle die für Frieden eingetreten sind, als Verräter gelten und sogar von staatlichen Behörden verfolgt werden.

Alle, die für eine Versöhnung eingetreten sind, haben verloren, die Nationalisten und Hardliner dominieren den aktuellen Diskurs in beiden Ländern. Diese werden in Armenien und Aserbaidschan die Politik der nächsten Jahre bestimmen, was zu einer weiteren Schwächung der Zivilgesellschaft führen wird und einen echten Frieden in eine noch weitere Ferne rücken lässt.

Die organisierten Angriffe auf eine Einrichtung der Soros Stiftung und die Redaktion von Radio Liberty in Jerewan zeigen, dass auch in Armenien westliche Institutionen, die Demokratie und Pluralismus fördern, unter Druck kommen können. In Aserbaidschan hatte bereits mit der Corona Pandemie eine systematische Repression gegen Teile der Opposition begonnen.

Präsident Aliew hat mit diesem militärischen Sieg an Legitimität gewonnen und wird noch mehr Spielraum haben, um Kritiker unter Druck zu setzen. Das Paradigma der Feindschaft zwischen beiden Staaten, dass seit den 1990er Jahren Teil des Nation building in Armenien und Aserbaidschan geworden ist, wird sich weiter verstärken.

Für Armenien ist das Trauma des Genozids durch die Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts tief in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Auch in diesem Kontext muss dieser Krieg Aserbaidschans unterstützt von der Türkei gesehen werden, der erneut das Trauma eines möglichen Völkermords wachgerufen hat.

10. Was sind die Konsequenzen für die Nachbarschaft der EU?

Dieser in der EU unterschätzte Konflikt sendet mehrere geopolitische Botschaften aus und entfaltet Wirkung über die Region hinaus. Mit der Ankunft der Türkei im Südkaukasus und einer zu erwartenden wachsenden Einflussnahme durch den Iran, findet eine weitere Desintegration des postsowjetischen Raumes statt.

Russland hat mit dem Waffenstillstandsabkommen und der Stationierung von „Friedenstruppen“ demonstriert, dass es weiterhin der entscheidende Sicherheitsakteur im Südkaukasus ist. Jedoch wird es zunehmend von Ländern wie der Türkei, dem Iran und China herausgefordert. Russlands Politik der Nutzung statt Lösung von Konflikten wird nur solange funktionieren, wie es ausreichend Ressourcen hat, um diese Politik militärisch abzusichern.

Die Türkei hat nun einen direkten Zugang zum Kaspischen Meer und kommt dem Ziel näher, ein Energiehub für Ressourcen aus der Kaspischen Region zu werden. Die wachsende Unabhängigkeit von russischen Öl- und Gasimporten sowie die militärische und wirtschaftliche Kooperation mit Aserbaidschan verbessern die türkische Verhandlungsposition gegenüber Russland. Länder wir Georgien und die Ukraine werden sich genau anschauen, welche Akteure zukünftig Russlands Einfluss in ihrer Region ausbalancieren können. Die Türkei führt auch bereits Gespräche für Drohnenlieferungen an die Ukraine.

Die EU ist kein geopolitischer Akteur. Durch ihr Nichthandeln wird Stabilität und Entwicklung in ihrer Nachbarschaft zunehmend von anderen Akteuren bestimmt. Das führt in einer multipolaren Welt zu Instabilität, da sich in Konfliktzonen in der südlichen und östlichen Nachbarschaft mit dem Rückzug der USA Räume öffnen, in denen Akteure wie Russland, die Türkei, Saudi-Arabien oder Iran um Einfluss konkurrieren.

Verbleibt die EU in der Rolle eines Zaungastes, wird sie dennoch mit den Konsequenzen von Konflikten, Kriegen, Vertreibungen sowie der Instabilität schwacher Staaten unmittelbar konfrontiert werden. Gleichzeitig verliert sie an Glaubwürdigkeit in den Gesellschaften und unter demokratischen Akteuren.

Ihr Nichthandeln trägt wesentlich dazu bei, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihrer Nachbarschaft weiter geschwächt werden und sich das Recht des Stärkeren gegenüber der Stärke des Rechts durchsetzt. Dabei sollte allen Akteuren bewusst sein, dass nur über Vertrauensbildung und Kompromisse echter Frieden zu erreichen ist.


[1] Laut SIPRI hat Aserbaidschan zwischen 2009 und 2018 24 Milliarden US-Dollar sein Militär ausgegeben. Armenien hat im gleichen Zeitraum 4 Milliarden US Dollar für sein Militär ausgeben, jedoch von Russland zu Vorzugpreisen Waffen gekauft. https://www.sipri.org/sites/default/files/SIPRI-Milex-data-1949-2019.xlsx

[2] Zwischen 2014 und 2018 war Aserbaidschan der zweitwichtigste Käufer israelischer Waffen, mit 17 Prozent der israelischen Exporte. Trends in international arms trade, 2018, SIPRI factsheet, March 2019, https://www.sipri.org/sites/default/files/2019-03/fs_1903_at_2018.pdf